Wie schütze ich mein Kind vor Cyber-Mobbing?
Experte von Pro Juventute spricht Klartext

Wurde man früher etwa auf dem Pausenplatz vom Bully gedemütigt, werden heute Fake-Profile ins Internet gestellt, Hasskommentare und SMS verschickt, diffamierende Videos oder peinliche Fotos ins World Wide Web hochgeladen. Während das Pausenplatz-Mobbing zeitlich und räumlich beschränkt ist, gilt das für Cyber-Mobbing nicht. So kann ein Opfer beim Cyber-Mobbing in kürzester Zeit vor einer viel grösseren Gruppe von Zuschauern blossgestellt werden, die diffamierenden Inhalte verbreiten sich schneller und sind 24 Stunden am Tag für alle einsehbar. Der Konsumer sprach mit Laurent Sédano, dem Verantwortlichen für die Fachstelle Medienkompetenz von Pro Juventute über das Phänomen Cyber-Mobbing, was Eltern und Schule dagegen tun können und welche Herausforderungen die neuen Medien für Eltern generell darstellen.
Herr Sédano, wie verbreitet ist Cyber-Mobbing unter Kindern und Jugendlichen eigentlich?
Das hängt von der Definition ab. Die fachlich anerkannte Definition nennt drei Bedingungen: Erstens, muss das Mobbing absichtlich geschehen; zweitens, muss es sich über einen längeren Zeitraum hinweg fortsetzen; und drittens, steht das Opfer alleine da. Gemäss dieser Definition werden etwa sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen Opfer von Mobbing. Es gibt Studien, die höhere Zahlen angeben, die kommen dann zustande, wenn mehr oder weniger jede Gemeinheit im Internet als Cyber-Mobbing gewertet wird. Da spielt nicht zuletzt eine gewisse Unkenntnis gegenüber den Jugendlichen mit.
Wie meinen Sie das?
Wenn Erwachsene mal Einblick in einen Chat unter Jugendlichen erhalten, reagieren sie oft empört. Wenn sich Jugendliche etwa mit „hey Bitch“ ansprechen, läuten bei Erwachsenen gleich die Alarmglocken. Sprechen sie aber die Jugendlichen darauf an, stellen sie fest, dass das oft weder verletzend gemeint war, noch so vom Gegenüber empfunden wurde.
Oft getrauen sich jugendliche Mobbingopfer nicht, bei Erwachsenen Hilfe zu holen. Was können Eltern tun, um das nötige Vertrauensverhältnis zu schaffen?
Ein Beispiel: Wenn in Max’s Whatsapp-Gruppe Pornobilder rumgehen und er weiss, seine Eltern nehmen ihm das Handy weg, wenn sie davon erfahren, wird er ihnen sicher nichts davon erzählen. Wenn er hingegen davon ausgeht, dass er sich ihnen anvertrauen kann, ohne gleich mit einer negativen Reaktion rechnen zu müssen, dann ist die Wahrscheinlich viel höher, dass er mit ihnen darüber reden wird. Grundsätzlich ist es wichtig ist, dass sich Eltern heute nicht mehr nur für das interessieren, was in der Schule, auf dem Pausenplatz oder beim Fussballtraining läuft, sondern auch dafür, was ihr Kind im Internet erlebt und macht. So wie man fragt: „Wie ist es heute in der Schule gegangen?“, kann man auch fragen: „Hey, was läuft eigentlich in Deiner Whatsapp-Gruppe?“ oder „Hast Du heute
was Neues auf Instagram gemacht?“
Wie kann diese positive Haltung der Eltern gegenüber den neuen Medien gefördert werden?
Es ist heute einfacher. Das Internet wird nicht mehr so skeptisch wie noch vor ein paar Jahren betrachtet. Trotzdem fühlen sich viele Eltern immer noch sehr verunsichert. Wir von Pro Juventute versuchen an unseren Elternabenden, den Eltern aufzuzeigen, dass die grundlegenden Themen – die Bedürfnisse ihrer Kinder, die Konflikte, mit denen sie sich rumschlagen, noch immer die gleichen sind wie früher – nur heute anders ablaufen. Also anstatt die CD-Sammlung des Ex‘ aus dem Fenster zu schmeissen, postet man heute vielleicht einen gemeinen Spruch auf dessen Facebookseite. Ein anderes Beispiel sind die Selfies. Vor dreissig Jahren haben wir auch Selfies gemacht, halt nicht mit dem Handy, sondern in der Photobox. Und so können wir den Eltern ein Stück weit die Ängste nehmen und auch Lust und Interesse an den neuen Medien wecken, in denen sich ihre Kinder heute bewegen.
Was kann die Schule tun, um Mobbing vorzubeugen?
Es ist wichtig, dass die Lehrperson von Anfang an, auf einen anständigen und respektvollen Umgang in der Klasse besteht. Ein Lehrer, der Konflikte offen anspricht und thematisiert, tut schon ganz viel, um Mobbing vorzubeugen. Wir beobachten des Öfteren, dass es in Schulklassen so eine Art Mobbing-Grundstimmung gibt. Wenn eine Schülerin sich meldet und etwas sagt, muss sie gleich mit Sticheleien von Schulkameraden rechnen. Da herrscht ein Klima vor, in dem jede Äusserung zu Abwertung führt. Und da kann sich eine Mobbingsituation leicht entwickeln.
Wie soll die Lehrperson damit umgehen, wenn ein Fall von Cyber-Mobbing auftritt?
Die Lehrperson soll die Situation mit der Klasse analysieren und dabei nicht einen einzelnen als den Schuldigen hinstellen. Stattdessen soll sie aufzeigen, dass Mobbing alle angeht und alle dafür Verantwortung übernehmen müssen. Auch wenn die eine Hälfte der Klasse vielleicht nicht aktiv teilgenommen hat, so hat trotzdem niemand von ihnen dem Opfer beigestanden. Schlussendlich müssen sich die Schüler überlegen, was für eine Klasse sie sein wollen. Möchten sie eine Klasse sein, wo einer blossgestellt wird, nur weil er uncoole Schuhe anhat? Und wenn nicht, was kann jeder einzelne beitragen, um das zu verhindern. Bei massiven Vorfällen empfiehlt es sich, eine externe Fachperson zum Thema Mobbing beizuziehen.
Medienkompetenz ist heute ein grosses Thema. Auch bezüglich Cyber-Mobbing. Wie können die Kinder dafür sensibilisiert werden?
Erwachsene haben oft das Gefühl, dass die Kinder technisch mehr wissen als Eltern und Lehrer – woher denn? Kinder und Jugendliche probieren häufig einfach mal aus und die Erwachsenen haben dann das Gefühl: „Ach, die wissen ja schon, wie es geht.“ Aber nur weil sie ein Gerät bedienen können, verstehen sie noch nicht, wie das Gerät funktioniert. Da wird den Kindern etwa vorgepredigt: „Ihr dürft keine Datenspuren hinterlassen, denn das Internet vergisst nichts.“ Was sollen die Kinder damit anfangen? Sie verstehen gar nicht, inwiefern ihr Handy Spuren im Internet überhaupt hinterlassen soll. Wenn sie die Kinder fragen, was das Internet eigentlich sei, kommen Antworten wie: das Internet sei eine grosse Wolke, oder eine Maschine irgendwo in China. Darum ist es wichtig, ihnen erst einmal zu erklären, wie das Internet funktioniert.
Aber ist für die Kinder Privatsphäre im Internet überhaupt ein Thema?
Wenn ich in einer Schulklasse bin und den Jugendlichen erzähle, dass sie mit dem Hochladen von Fotos auf Instagram alle Rechte an den Bildern an Instagram abtreten und die Leute bei Instagram danach mit den Bildern machen können, was sie wollen, dann reagieren die Jugendlichen empört. Sie finden das total daneben. Den Kindern ist Privatsphäre also eigentlich sehr wichtig, aber sie müssen erst einmal verstehen, was da läuft. Unsere Aufgabe besteht darum weniger darin, ihnen zu sagen: „Du musst, das und das machen“, „das darfst Du nicht machen“. Stattdessen müssen wir mehr erklären und Verständnis schaffen, wie das alles funktioniert, damit die Jugendlichen selber handlungsfähig werden.
Vielen Dank für das Gespräch.